Donnerstag, 27. Januar 2011

episode zwei

im engen kombi sitzen wir und fahren durch eine landschaft, die uns ganz unwirklich vorkommt. es gibt grün zu beiden seiten, so weit das auge reicht, auf der linken seite genaugenommen bis zum ufer des riesig wirkenden sees, auf der rechten die hänge hinauf bis zu den bergkämmen. wir leben über drei monate in peru und sehen jetzt zum ersten mal natürliche wiesen, grasflächen, das grün leuchtet, unsere augen sind an solche saftigen weideflächen nicht mehr gewöhnt. es ist toll, wir fahren durch die endlose grüne hochpampa, befinden wir  uns doch immerhin in dreitausendachthundert metern höhe über dem meer. hier und dort stehen kühe, esel, schafe, sie mustern kauend den vorbeifliegenden silbernen kasten, mal eine lehmziegelhütte, sonst aber wirklich nicht viel. die sonst wohl lebendigere landstraße ist leer, irgendwann gibt es eine kontrolle, wir wissen nicht warum, müssen aussteigen, das gepäck auf dem dach des kombis lassen und hundert meter ein bisschen abseits der piste laufen, am ende zwischen zwei jungen soldaten durch, die aber nicht wirklich konzentriert wirken, unifomiert, grinsend, erzählen sich irgendwelche geschichten und spielen karten. dann geht es weiter, die straße zieht sich schnurstracks durch die weidenlandschaft, irgendwann tauchen am horizont häuser auf, wir nähern uns städtischer zivilisation, aber bald verringert der fahrer die geschwindigkeit, in einigen hundert meter entfernung tauchen menschenmengen auf, rauch steigt in den himmel. er hält an, wir steigen aus, weiter will er nicht, auch andere kombis haben ihre fahrgäste hier schon abgeladen. schließlich schnallen wir uns die rucksäcke auf und gehen los, eigentlich nicht genau wissend, wie es weitergehen soll, weil der weg zu fuß bis nach la paz noch viel zu lang wäre.


wir passieren steine, die die straße blockieren, brennende reifen, glassplitter. irgendwann winken wir einem der wenigen kombis, die noch weiterfahren, er hält an, rucksäcke aufs dach, rein in die kiste. bald wird deutlich, dass über diese straße niemand in die stadt kommt, der fahrer entscheidet, runter hier, bevor es steine hagelt. also ab auf die sandstraßen, bald feldwege, immer wieder hält er an, überlegt, wie es weitergehen könnte. einige bachbetten müssen mir durchqueren, ohne zu wissen, wie tief sie sind, wir rumpeln über stock und stein, nähern uns nur sehr langsam den häusern und genießen diese so fremdartig geheimnisvollen laute des aymara, in dem uns die frauen im bus baden... nach stundenlangem gesuche kommen wir in nebenstraßen an, an jeder ecke schaut der fahrer vorsichtig, ob an der nächsten demonstranten warten. die staubigen mauern der grundstücke sind mit politischen ausrufen bemalt, das kennen wir auch aus peru, was hier neu ist, steht nicht nur an einer wand und erschreckt mich in seiner aggressivität: RÄUBER WERDEN LEBENDIG VERBRANNT! da fällt mir ein, wie ich in peru in den nachrichten einmal gesehen hab, wie ein nackt an einen laternenpfahl gebundener mann von den umstehenden leuten getreten und geschlagen wurde, immer wieder, immer wieder. er heulte und entschuldigte sich und bat um gnade, aber immer wieder fliegt im eine faust ins gesicht, und die ganze zeit hält die kamera drauf. selbstjustiz, wo öffentliche ordnung - unabhängig davon, ob öffentliche ordnung nun etwas gutes ist oder nicht (wir befinden uns in südamerika, hier bietet die prädemokratische geschichte viele beispiele für schlechte öffentliche ordnung) – versagt, greifen die nachbarschaftsverbünde zu den mitteln, die sie für angebracht halten… mir läuft ein schauer über den rücken.

mitten in el alto steigen wir aus, bedanken uns beim kombiehepaar und setzen die rucksäcke erneut auf. es ist eine breite breite straße, aber es gibt keine autos, nur hunderte menschen, gelegentlich ein motorrad, die müssen aber auch aufpassen, nicht in eine menschentraube zu geraten… evo, der bolivianische präsident, ist indigeno, hat seinem volk viel gutes getan, die armen des landes unterstützt, ist seiner herkunft treu geblieben und wurde immer von den indigenas des landes gefeiert. am vortag hat er allerdings per gesetzt eine enorme benzinpreiserhöhung bewirkt. in einem solchen land, in einer solchen stadt bedeutet das, dass alle preise von allem ansteigen, der transport von obst, gemüse, baumaterialien kostet mehr, der öffentliche verkehr muss die fahrpreise erhöhen, die taxifahrer ebenso. viele bolivianer, besonders die bewohner el altos, treibt das an den rand der existenznot. deshalb sind sie auf die straße gegangen, überall im land, besonders in el alto respektive la paz, wo das politische geschehen des ökonomisch schwachen landes stattfindet. und deshalb haben sie eine große wut gegen diejenigen, die das auto doch noch bewegen und nicht protestieren. letztendlich nimmt uns aber doch noch ein taxi ein stück mit, wieder laufen wir weiter, sehen, dass die bolivianische stadt der peruanischen sehr ähnlich sieht, vielleicht nur geringfügigdreckiger oder weniger sortiert, wieder eine mitfahrgelegenheit, wieder laufen, dann plötzlich merke ich, wir sind am rand des topfes angekommen. rechts führt eine kleine gasse zwischen den häusern entlang. an einer kniehohen mauer bleiben wir stehen, mit offenem mund.







es ist unglaublich, also auch unbeschreiblich und im grunde auch nicht fotografierbar. uns zu füßen liegt eine millionenstadt… einen ganzen moment müssen wir diesen blick aufsaugen, einfach dastehen und glotzen… voll entschädigt für die umständlichkeiten des weges bis hier her, wirklich ganz und gar zufrieden setzen wir uns ein letztes mal in ein taxi, welches uns durch leere in den topf fallende straßen bis zu unserem hostel fährt. ab ins zimmer, rucksack ablegen, ein schluck wasser und dann wieder nach draußen. wir treten vor die tür, stehen an einer der zentralsten straßen von la paz und hören parolen, knallkörper und andere geräusche, die menschenmassen eben machen, in der ferne und folgen diesem lärm, bis wir plötzlich mitten in dem demonstrierenden strom stehen, plakate fluchen gegen die preiserhöhung, gegen den in der letzten woche noch gelobten präsidenten, die leute schießen knaller in die luft, die wirklich erschütternd explodieren, und verbrennen reifen mitten in der demonstration. das ganze schiebt sich einen block unterhalb der plaza murillo entlang, nach oben versperren polizeiblockaden den zugang zum wichtigsten platz der stadt, an dem staatspalast und andere politische zentren liegen. berauscht von der revolutionsgewalt, von dem heißen blut der bolivianer, von den rythmischen parolen lassen wir das auf uns wirken, ich denke, ja revolutionstourismus, an der grenze wussten wir nichts, jetzt sind wir angekommen, in la paz, mitten in der revolution. ich bin in diesen gedanken vertieft, als diese menschenmenge plötzlich umkehrt und die straße hinabrennt, ich wundere mich noch, was denn nun passiert sein könnte, da jagt es mir schon tausend feine nadeln in die nase, den gaumen und schließlich die augen. tränengas… ich kann nicht unterbinden, mich wegzudrehen, zieh mir das halstuch vor die nase, aber wir wollen nicht wirklich weg, also bleiben wir, die demonstranten kehren zurück und vor den nächsten tränengaswellen flüchten schon viel weniger, auch wir nur so halb. tränender augen strahle ich, glaube ich, ja, verdammt, leben, ganz echt, nicht aus den nachrichten, ich spür das gift mit allen sinnen, mir treten die menschen auf die füße… 

bald gehen wir hinunter auf die große hauptstraße, die wie so viele wichtige verkehrsadern auch in peru nach irgendeinem datum benannt ist, was nicht ungern der jahrestag einer großen niederlage gegen die chilenen beispielsweise ist, zur ehrung der gefallenen vaterlandsverteidiger. auch hier spielt sich jetzt das chaos ab. plötzlich hört man den lärm meherer großer motorräder, jetzt fliehen die menschen wirklich, wir halten uns hinter ein paar zeitungskiosken auf. dann jagen an die zehn knallrote polizeimotorräder vom plaza murillo hinab, mit fahrer und hinten ein mit rauchgranatenwerfer bewaffneter zweiter polizist. mit großer aggressivität und in formation fahren sie immer wieder die straßen hier entlang, ihre rauchenden atemgiftdosen werfend, brennende reifenzeitungmüllhaufen löschend und die menschen auseinander treibend. immerwieder rotten sich aber auch die demonstranten zusammen, rufen sich gegenseitig zu, kommt, kommt zusammen, nicht davon laufen, los!! wir lassen uns nicht stummmachen!

irgendwann merken wir unsere mägen und gehen essen, gehen noch ein bisschen über die märkte, die mitunter seltsame sachen anbieten und schließlich fallen wir müde ins bett, die straße ist wieder ruhig, es gibt wieder verkehr… ich wundere mich noch, aber später hör ich, evo hätte die preiserhöhung rückgängig gemacht, oder so ähnlich zumindest.

den nächsten morgen, den letzten tag des jahres, beginnen wir mit einem gemütlichen und ganz hetzlosen spaziergang über den großen markt des indigena viertels von la paz, wir decken uns mit allerlei leckereien ein, getrocknete  pfirsiche, in honig geröstete erdnüsse, bananenchips, mürbe leckere kekse, wässrige rote gelantine mit wiederlicher sahneirgendwas obenauf, rote bananen, von einem mann mit sternen auf seinen goldzähnen frisch gepressten orangensaft und dergleichen. ich stelle zum wiederholten male fest, dass die märkte zu meinen absoluten lieblingsorten gehören hier in südamerika, als fotograf ganz besonders, aber nicht nur das… la paz hat volle straßen, voll von menschen, voll von autos, wir lassen uns tragen, hierlang, dalang, hierher und daher und genießen… während sich unsere blicke in den tausend verkauften dingen und den vielen fangenden gesichtern verlieren, hören wir plötzlich: TAUSEND DOLLAR, EINTAUSEND DOLLAR, FÜR EINEN BOLIVIANO TAUSEND DOLLAR. da der boliviano – ja  es ist ein vergnügen, dass die währung wie die bewohner des landes heißen, übelegt nur mal, wie man mit einem halben boliviano bezahlen würde – ein zehntel des wertes des euros hat, wundern wir uns schwer, denken, wir haben eine absolute börsenkatastrophe verpasst… nun,  für zehn eurocent bekommt man nicht oft eintausend dollar, also schlagen wir zu. man erklärt uns dann aber, dass dieses papiergeld in der nacht zum neuen jahr gezählt wird und damit glück bringen wird. nun gut, da die scheine nicht nichteinmal monopolyqualität haben, werden sie zu mehr wohl wirklich nicht langen.













für den nachmittag haben wir uns den regierungsteil des stadtzentrums vorgenommen. die plaza murillo ist heute ganz normal zugänglich, wirkt aber nicht, wie der ort, an dem die geschicke des landes entschieden werden, es hat etwas kleinstädtliches, wenn überhaupt. dafür kann der platz eine höhere taubendichte aufweisen, als alles, was ich bisher gesehen habe. der ganze boden krabbelt und flattert, ich lerne ein paar ganz besondere fotomodelle kennen…











nachdem wir durch ein paar kleine, mediterran anmutende gassen flaniert sind gelangen wir irgendwann wieder ins hostal, von wo aus wir aufbrechen, um etwas sehr merkwürdiges zu tun. ich tippe ganz merkwürdig die telefonnummer meiner berliner heimat ein, es klingelt, es klingelt, der anrufbeantworter geht, ran mein herz würgt ab. die stimme meines bruders… so fern, so unwirklich und doch so vertraut und geliebt. er lädt mich ein, nach dem piepton doch eine nachricht zu hinterlassen. ich zögere, aber dann wünsche ich meiner familie ein ganz besonderes jahr, ein bewegtes und aufregendes... genau das bin ich in diesem augenblick, ich bebe vor aufregung und rührung. dann lege ich auf. viele stunden, bevor mich das neue jahr begrüßt. hier ist das jahr einfach stunden später zuende… 

merkwürdig. ich werde also das längste jahr meines lebens beenden… wir legen uns ins bett und schlummern.

4 Kommentare:

  1. Dein Bruder kann's gar nicht erwarten, dich wiederzusehen. Und das dürfte den anderen Reisenden in Spe nicht anders gehen - einschließlich mir.

    Und interessant, dass Autofahrten in Peru schnell mal zum Abenteuer werden können. :D Aber bestimmt besser als graue Autobahnen ...

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  2. deinblogärgertmich31. Januar 2011 um 21:36

    Dazu fällt mir Deichkind ein: "Bitte gib mir mehr von dem heißen Scheiss..." Dabei dürfte ich doch gar nicht so gespannt auf die Fortsetzung sein, oder? 16 Tage, dann geht's eh wieder ab :)

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  3. Auf der Suche nach Bilder von Villa María im Google bin ich auf deinen Blog gestossen und bin sehr froh darüber. Ich finde es höchst interessant, wie du alles erlebst und deine Erzählweise ist wirklich bewegend.

    Ich habe den umgekehrten Weg als du, ich bin selber in Villa María, aber eher im Zentrum beim Rathaus, aufgewachsen und meine Familie lebt auch noch dort. Nun lebe ich seit 7 Jahren in Deutschland und studiere und staune immer wieder :-)

    In meinem kleinen Blog habe ich dir einen "Award" verliehen, denn ich finde deinen sehr lesenswert und möchte damit in die Fashionblogwelt etwas Realität reinbrigen.

    http://irisleblog.blogspot.com/2011/02/zum-schluss-will-ich-allen-meinen-6.html

    Das Spielchen musst du nicht mitmachen, wenn du nicht möchtest, ich wollte bloß, dass du es weisst, dass man dich gerne liest.

    Un abrazo y mucha suerte !

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  4. Ich schließe mich Irisle an - du hast mich mit deinem Blog gefesselt. Deine Schreibweise ist wirklich einzigartig, und ich (die ich schon viel zu viel Zeit meines Lebens im Internet verbracht habe) habe dort selten etwas so Herausragendes gelesen.
    Ich bin schon sehr gespannt auf deine nächsten Schilderungen, du hast bei mir gerade ziemlich starkes Fernweh verursacht.
    Wenn ich mehrere Wünsche freihätte, würde ich gerne einen Tag Peru mit deinen Augen sehen - es wäre bestimmt eine tolle Erfahrung.

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