Montag, 1. November 2010

bibelgeschenke, japaner, nachbarschaftstvereinigung, dobermann, gemüsemarkt

maria julia de la cruz steht vor ihrem englischkurs. es ist eine vierte klasse der secundaria, das heißt, die schüler gehen im zehnten jahr zu schule und haben auch nur noch ein weiteres vor sich. sie versucht, viel englisch im unterricht zu sprechen, aber die schüler vertehen nicht viel dieser so fremden sprache. sie haben einfache aufgaben, einigen gelingt es nicht einmal, simple kopien dessen zu machen, was an der rauen, viel kreide verschlingenden tafel steht. bei manchen habe ich stark das gefühl, sie denken nicht über das nach, was sie schreiben. es gibt allerdings auch die, die verstehen, die mit einigermaßen guter aussprache die sätze lesen können. gute aussprache ist hier allerdings relativ, nur den wenigsten englischlehrer sind motiviert, sich ihres schwierigen unterfangens anzunehmen, und denen, die es sind, fehlt auch ein muttersprachler und die sprechpraxis als einzig brauchbare trainer.

plötzlich tritt ein wuchtiger gringo von etwa sechzig jahren ein. zur bedienung stereotyper bilder hervorragend geeignet nordamerikanisches auftreten, entsprechend grüßt er mich selbstverständlich im ton, wie ich ihn für die südstaaten der dort irgendwo im norden liegenden usa für typisch halte. gefolgt von einem peruaner tragt er einige kartons in den raum, bittet um aufmerksamkeit. der usamerikaner stellt sich vor, beschreibt seine arbeit, beziehungsweise die seiner kirche. und der peruaner übersetzt simultan. die beiden sind ein eingespieltes team, sie legen eine show hin und ich hab das gefühl, sie sprechen die sätze des missionierungseinmaleins. nicht unbedingt negativ in meinen augen, sie spielen ein irgendwie heischerisch symphatisches duett, dass nach fortschritt und handlungsbegeisterung schreit. zweifelsohne haben sie die aufmerksamkeit der schüler, ich bin mir nicht ganz sicher, wie sie auf mich wirken... dann werden die kisten geöffnet und an jeden schüler ein kleines in kunstleder gebundenes neues testament ausgeteilt. niemand muss etwas bezahlen, die bücher aus den kisten, in denen sie druckfrisch zu hunderten gestapelt sind, sind ein geschenk der kirche dieses mannes. ich verstehe leider nicht genau welche. nach der erklärung, was die bibel ist, was sie uns gibt und wann wir sie zu rate ziehen können, lässt sich der gringo mit einem der schüler fotografieren. ein bild der rettung und des sieges. ich kann mich nicht entscheiden, ob ich das so gut finde. nein, am ende muss ich sagen, wenn 'das wort gottes' mit derartig inflationärer geschwindigkeit einem jedem in die hand gedrückt wird, eigentlich keine zeit für keinerlei austausch ist, dann bin ich nicht so der freund dessen. ohne verbindlichkeit oder nur den hauch eines vertrauens landet das neue testament auf den kleinen tischchen, die an einem jeden stuhl seitlich befestigt sind. hm... manche dieser tische wackeln, du die starke beanspruchung lösen sich die schrauben. dann jagen sie davon, die botschaft in den nächsten raum tragen, wer weiß, wieviele büchlein sie heute noch verteilen müssen...


einige tage später. ich warte auf eine lehrerin. ein kleines mädchen kommt die treppe hinab, vor der ich stehe, erblickt mich und hält inne. sie muss wohl etwa 8 oder 9 jahre alt sein. mit großen augen sagtfragt sie „ah, äh, ah, du, du bist doch, du bist doch so ein, äh, japaner!?!“ ich muss unmittelbar total grinsen. dann sofort denke ich, ja, wie bezeichnend... die kinder, die hier leben, nehmen eine kleine welt war. ich weiß nicht, wie sehr das anders in deutschland ist. ich habe nur das gefühl, es ist unglaublich schwer, sich die unbegreiflich weite welt vorzustellen, wenn man hier jeden morgen seinen schulweg über sandpisten, geröllwege, an dessen seiten der müll der letzten monate liegt, welcher von den hunden durchstöbert wird, bevor ihn nachts irgendjemand anzündet, auch mit dem versuch, die langsam gefährlich stinkende hundeleiche zu beseitigen, was aufgrund der hohen luftfeuchtigkeit nicht funktionieren will, weshalb sich mir am nächsten morgen auf selbigem weg ein schauriges bild darbietet... wenn das jedenfalls der einzige weg ist, den man geht, nicht aus diesem stadtteil mit vielen holz- und wellblechhütten unter einem wirrnetz von stromkabeln kommt und der geographieunterricht mehr phantasie ist, als das große übrige vermitteln zu können.
ich sage dem mädchen nach einer kurzen pause, die ich benötige, um mich zu vergewissern, dass ich sie nicht falsch verstanden habe, dass ich aus deutschland komme. da weiten sich ihre augen noch mehr und sie wiederholt „...alemania..“ dann hüpft sie zufriedengestellt in eine andere richtung. mich zurücklassend mit dem gefühl, dass es irgendwie ein bisschen meine rolle sein könnte oder sollte, die menschen hier wortlos darauf hinzuweisen, dass es da draußen etwas gibt. sie sitzen hier wirklich in einem tiefen teller...


francisco hat im zweiten anlauf einige nachbarn mehr dazu bewegen können, an einer nachbarschaftsversammlung teilzunehmen. im haus zu seiner linken gibt es genug platz und so nehmen etwa dreißig menschen verschiedenen alters bank und hören sich an, was franciscos petition an die bürgermeisterin beinhaltet, was er für ideen und plänen hegt... sie reagieren, langsam entsteht eine gute sammlung an erkenntnissen und ideen. sie einigen sich, ganz wortwörtlich. und das ist gut, nach jahren der struktur- und interesselosigkeit im comitario 38 (so der offizielle name für die häuserblocks hier) raffen sie sich endlich wieder zusammen, mit mut und handlungswille, um die dinge anzugehen, die es zu ändern und verbessern gilt. es wird sich zeigen, in wieweit wir als einjährige freiwillige daran mitwirken können.












kurze episode: ich bin auf dem rückweg vom meer, gelange aus der wüste wieder in die stadt, laufe die sandpiste entlang. ich sehe den schönen dobermann im roten shirt schon früh, er ist nicht angeleint und ich weiß, dass ich sein revier passieren werde. als ich einige meter vor ihm bin, steht er auf, mir laufen schon zwei andere hunde bellend hinterher. dann macht er einige wenige sätze und ist bei mir. er spricht mit ganzem körper, mit den augen spricht er, seine nachricht ist eindeutig. mein adrenalinspiegel jagt nach oben: ein dobermann ist etwas anderes, als die überall lebenden straßenmischungen. er läuft direkt schräg hinter mir, keinen meter entfernt, bellt und sieht nicht so aus, als würde er gefangene machen. dann entscheide ich. ich blicke wieder nach vorne, verjage ihn nicht, ich erhöhe nicht meine geschwindigkeit, nein... ich lasse mich tragen. es ist ein unglaubliches gefühl. ich laufe nicht davon, ich lasse mich von ihm bedrohen, überwinde alle angst. ich hatte nie angst vor hunden, aber am ehesten in diesem moment. dem nicht nachzugeben, in kauf zu nehmen, dass er mich beißen könnte, mich auf jeden fall aber ein oder zwei häuserblocks mit ganz eindeutigem ziel begleiten würde, und einfach weiterzulaufen... es war wie fliegen.

natürlich hat er mich nicht gebissen. hunde, die bellen, beißen nich.
jonas schreibt: nur so viel leichtsinn dass du die tollsten dinge erleben kannst

...ja, bruderherz, genausoviel!


ich stehe früh auf, werfe mir ein bisschen des chlorhaltigen wassers ins gesicht, ziehe mich an, treffe hilda in der küche. wir essen eine handvoll wunderbarer, violletter weintrauben, verlassen das haus, treffen marisol (die geschwister sind: hilda, nelly, jorge, eva, marisol, francisco) an der pista, steigen in eine art linientaxi, ich nehme im kofferraum platz. nach etwa einer stunde steigen wir aus, viele menschen sind hier auf der straße, wir gehen los, schnellen fußes betreten wir die parada, den größten gemüsemarkt limas. erst jedoch besuchen wir den teil, der alle üblichen dinge anbietet. frisch gemahlener kaffe aus dem regenwald, milchfarben glänzender käse aus den anden, dunkelrot tropfende oliven, vielleicht tatsächlich aus den küstengebieten.. dann trinken wir einen unbeschreiblichen saft: ananas, papaya, apfel, rote beete, brauner zucker. das glück trifft auf meine zunge, es weiten sich meine pupillen, das blut in meinen adern scheint sich mit einem mal zu erfrischen, ich denk: oh wow... oh oh wow...
dann jagen hilda und marisol los, ich habe mühe, sie nicht zu verlieren, die gänge sind voll von menschen, einige sich langsam bewegend, andere in hast und mit artistischen fähigkeiten dahinfliegend. einige mit einhundert gramm chile (ahi oder chile sind etwa unsere peperoni, ähneln gefährlicherweise kleinen paprikas, ein glück ich habe schon gelernt... ihre schärfe langt, einen elefanten niederzustrecken.) in der hand, andere ihre einachsigen lastkarren hintersichherziehend, auf denen sich säcke voller zwiebeln oder kartoffeln mit einem gesamtgewicht von sicher bald einer halben tonne stapeln. die männer mit den lastkarren warten, zum teil in einigen metern höhe auf den bergen von geflickten kartoffelsäcken sitzend, auf arbeit. ihre körperhaltung verrät vieles, ist gezeichnet von jahrelanger grenzenlos harter arbeit an diesem extremen ort. ihre gesichter sind abgenutzt, gefeilt, markiert. so auch die einiger frauen, die tomaten verkaufen, süßkartoffeln oder salat und lauchzwiebeln. manche menschen wirken wirklich zerstört, einige sind unendlich hässlich. mir prägt sich ein bild von menschen ein, die ihr ganzes leben schuften (ich weiß nicht, ob ich es schoneinmal so sehr empfunden habe, dieses wort: schuften), nur um die menschen der stadt zu ernähren. diese hässlichkeit, diese krankheit der arbeit ist jedoch mit unserem wort der hässlichkeit nicht in hinreichendem umfang zu beschreiben. denn viele lächeln. es ist schwer beeindruckend, wie diese menschen hier zum teil aussehen. und ich stelle mir vor, ob sie sich auch so wahrnehmen. diese hässlichkeit wirkt stark anziehend auf mich, diese tiefen furchen in ihren gesichtern verbergen so viel, mit mystischer manier gehen sie ihrer routine nach und ich stolpere dazwischen, weil ich meinen blick nicht auf den weg und meine füße konzentrieren kann, werde von heranrollenden maistransporten halb umgestoßen und in den nächsten kartoffelberg geworfen, weil ich in gedanken versinke. eine der ganz schachfeldartig angeordneten gassen beherbergt nur maisverkäufer, der boden ist von einer zentimeterdicken schicht von maisblättern bedeckt, hier läuft es sich sehr weich, eine maishändlerin bietet mir mit worten des quechua ihre tochter an, sehr klug und noch hübscher, übersetzt hilda, ich habe den eindruck sie macht sich einen spaß und steige eine runde ein. dann sage ich der dame, die ihren mais zupft, danke, ich sei nicht auf der suche. jemand wie ich... als so einer ist man hier eine sehr eigenartige, weil höchstseltene erscheinung, viele male flüstert einer der entgegenkommenden lastkarrenmänner: gringo... zwischen all diesem extrem, zwischen mais, kartoffeln, zwiebeln(derer ein sack im großen blumenerdeformat umgerechnet etwa 5euro kostet), tomaten, kürbissen(die aufgeschnitten in leuchtendem gelb ihr saftiges fleisch präsentieren), kohlköpfen, knoblauch, karotten, ingwer, zwischen diesen unmengen an gemüse laufe ich also mit sich immer weiter füllenden plastikflechttragesäcken, schwer beregnet von all dem sehen, hören, fühlen, riechen, nur das schmecken verschiebe ich auf später. irgendwann kann ich die säcke nicht mehr tragen, sie drohen zu reißen. es fehlt auch nicht mehr viel, die beiden rufen einen der vielen jungen heran, der beläd seinen karren, nachdem die bezahlung geklärt ist, und wir folgen ihm wieder mit großer geschwindigkeit zur hauptstraße zurück. dann machen wir uns auf den rückweg, im bus essen wir das bergbrot, was marisol im allerleimarkt gekauft hatte, es ist köstlich, kauend denke ich nach...

es ist sehr gefährlich, aber ich werde irgendwann mit meiner kamera hierhergehen. die photographien, die man hier aufnehmen kann, werden vermutlich an echte genialität grenzen, wenn ich das so bescheiden sagen kann. ein meer an motiven von unbeschreiblicher qualität...

3 Kommentare:

  1. mein bruderherz, du brauchst gar keine kamera mitzunehmen, wenn ich lese, was du schreibst, entwickeln sich die bilder in meinem kopf und herzen, es ist, als könnte man mit deinen augen sehen und mit dir durch diese welt gehen!
    nur wie das bergbrot schmeckt und all die anderen köstlichkeiten, das kann ich nicht erfahren, aber ich habe geld für einen flug auf die seite gelegt und werde weiter sparen, um mit dir auf diesem markt einkaufen zu können und vllt. mit hilda und dir in der küche zu sitzen und zu kochen?
    wie du denkst, ist mir so nah!

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  2. Oh man, du machst echt die richtigen Erfahrungen.

    Ich hätte bei der Bibelausgabe wohl kaum ruhig bleiben können, zumindest, wenn dabei noch weitere Propaganda (die sogar religionsfremd zu sein scheint) verbreitet wird.

    Das Warten auf diesen Eintrag hat sich echt gelohnt!
    Ich freue mich schon jetzt auf den nächsten und ziehe mir jetzt genüsslich die Bilder rein ...

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  3. Deine Augen, Nico. Deine Augen möchte ich haben.

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